Ich habe vorhin im Bus einen jungen Mann meines Alters gesehen. Er hatte dunkelblonde kurze Haare und eine Brille. (Und nein, das hier wird keine Geschichte darüber, wie ich den attraktivsten Mann der Welt oder etwa meine große Liebe traf.)
Erwurde in seinem Rollstuhl von einem älteren Mann, vermutlich seinem Vater, in den Bus geschoben. Der Busfahrer ließ extra den Bus etwas herabsenken und erkundigte sich, ob der Vater Hilfe mit der Rampe benötige, was dieser verneinte. Der junge Mann hatte eine Decke über sich liegen, eine von diesen Sheepworld-Decken. Nur sein Kopf schaute heraus, starr nach hinten gelehnt. Er konnte nichts bewegen, außer seinem Gesicht.
Ich starrte ihn etwas zu lange an und schaute dann, beschämt von mir selbst, wieder aus dem Fenster. Sein Blick und meiner hatten sich kurz getroffen. Verdammt, dachte ich mir. Jetzt gib ihm doch nicht das Gefühl, dass er anders ist als wir. Oder sollst du doch Anteilnahme zeigen? Ihn ignorieren?
Möglichst unauffällig sah ich wieder herüber. Sein Vater vergewisserte sich gerade, dass der Rollstuhl einen festen Stand hatte und setze sich hinter diesen. Komischerweise merkte ich in diesem Moment, wie sich Tränen in meinen Augen sammelten. Wie muss es sich anfühlen, wenn man 24 Stunden am Tag auf andere Menschen angewiesen ist? Wird es erträglicher dadurch, wenn man es nicht anders gewöhnt ist? Wie fühlt er sich wohl, wenn er von Menschen umgeben ist, die sich alleine die Nase putzen oder aus dem Bus steigen können?
Er hatte einen bitteren Zug um den Mund. Ich überlegte, ob dieser vielleicht ein Resultat seiner schwachen Muskeln war oder seine Sichtweise über seine Situation widerspiegelte. Wie ist es für ihn, wenn er ein hübsches Mädchen sieht und weiß, dass er sie aller Wahrscheinlichkeit aufgrund seiner Behinderung nie haben wird? Spielt das eine Rolle für ihn oder hat er sich damit abgefunden? Empfindet er Wut oder Verachtung, wenn er hört, wie sich ein Jugendlicher, im Bus hinter ihm sitzend, darüber beschwert, dass er das neue Iphone nicht haben kann? Wie denkt er über Mädchen, die sich darüber aufregen, dass ihre Oberschenkel zu fett sind? Er kann seine nicht bewegen.
All das schoss mir durch den Kopf und ich schämte mich dafür, dass ich mich kurz vorher noch darüber ereifert hatte, dass ich diesen Sommer nicht einmal im Freibad war. Ich würde mich hassen, wenn ich er wäre, dachte ich erschrocken. Und Menschen, die den ganzen Tag schlechte Laune haben, weil sie kein Geld haben, um nach Australien zu fliegen und ihr Leben ja sowieso sinnlos ist. Leute, die weinen, weil sie es genießen, im Dunkeln traurige Songs zu hören und sich in eine hübsche Depression hineingleiten lassen. Sind wir ehrlich, es kann manchmal schon ganz bequem sein, sich ins Bett zu legen, in Selbstmitleid zu ertrinken und das eigene traurige Schicksal ein bisschen zu beweinen. Nur könnten sich die meisten von uns selbst ins Taschentuch schnäuzen.
Was hat dieser Junge für Träume? , dachte ich. Eine Frau finden, eine Weltreise machen, Kinder großziehen? Alles im besten Falle mehr als schwierig, wenn man nichts bewegen kann, außer seinen Gesichtsmuskeln. Verflucht er seine Existenz? Wünscht er sich, in einem anderen Körper noch ein mal von vorne beginnen zu können? Fragt er sich, warum sein Geist gerade in diese Hülle geboren wurde? Er hat nur dieses eine Leben, dachte ich und spürte Panik in mir aufsteigen. Oh Gott, wie hält er das bloß aus? Nur diese eine Chance zu haben und dank Mutter Natur nichts daraus machen zu können? Eine verschwendete Existenz.
Gleichzeitig ekelte ich mich ein bisschen vor mir selbst. Steht es dir zu, dass so zu beurteilen? Vielleicht empfindet er ja Freude und Glück und weiß zu schätzen, dass er am Leben ist? Wieso bildest du dir ein, sagen zu können, dass sein Leben nicht lebenswert ist? Aber diese Gedanken blieben, ich konnte nichts dagegen tun.
Der Bus hielt an. Sein Vater zog die Decke über seinem Körper zurecht. Die Rampe ging herunter und er wurde herausgeschoben.
Ich blieb zurück und bemerkte, dass sich eine Träne aus meinen Augen gelöst hatte.